Lebensbericht von Hedy Wolfer

Es war an einem Montagabend, Ende Mai 1990, als ein Abteilungsarzt im Inselspital Bern endlich Zeit fand mir «meine» Diagnose mitzuteilen.

Es war die vermeintliche Korrektur der zerebralen Ataxie (hervorgerufen durch die nicht ganz glücklichen Umstände meiner Geburt). Wie sich mit der Zeit heraus stellte, war es nicht die Korrektur, sondern die Ergänzung!

Mir blieb von jenem Abend folgendes haften:

•Erstens solle ich jetzt machen, was mir Freude bereite und
•Zweitens hätte ich Glück, denn meine Erbkrankheit mache keinen geistigen Schaden – zwar könne ich mit der Zeit nicht mehr deutlich sprechen, aber denken könne ich noch und gehen könne ich auch nicht mehr. Und dies alles, weil die Steuerung meiner Muskeln immer weniger gut funktioniere und dies führe zu einem Abbau der Muskeln. Eine Heilung gäbe es nicht und von Therapie sprach auch niemand. Ich vergass damals zu fragen, wie denn diese Krankheit heisse.
Die Antwort erhielt ich später von meinem Neurologen, der mich in die Insel geschickt hatte, weil er für meine Symptome keine passende Krankheit fand. Es war FA, Friedreich Ataxie. Dies erzählte ich meinen Kolleginnen. Sie schauten mich mit grossen Augen an und waren entsetzt. Ich selber war nur einfach froh, dass mein Schwanken und die zunehmenden «Umfälle» endlich einen Namen hatten. Jetzt konnte ich auch noch gehen und tun was ich wollte, also machte ich mir auch keine Sorgen für später. Ich suchte nach Unterlagen über FA, aber mich betraf es irgendwie nicht. Wohl wurde ich immer wieder krank – in einem Jahr hatte ich drei Mal eine Nierenbeckenentzündung und gleichzeitig Angina.



Dann passierte es. Bei einem meiner «Umfälle» brach ich meinen rechten grossen Zeh. Der Zehen musste operiert werden und ich durfte ihn eine Weile nicht belasten. Ich hätte mit zwei Stöcken gehen sollen, aber mit meiner Koordination schaffte ich dies einfach nicht. Deshalb fuhr ich Rollstuhl (vorläufig meinte ich).



Bei meiner ersten Einkaufstour geriet ich jedoch in helle Begeisterung. Einfach losfahren und umherschauen, war eine neu entdeckte Freiheit. Mit beiden Händen Tomaten abfüllen und keine Angst haben in diesen zu landen, einfach herrlich. So wurde denn vier Jahre nach der Diagnose FA ein Rollstuhl mein ständiger Begleiter und mit ihm wuchs der «Gwunder» wie denn andere mit FA lebten.



Über den Neurologen und die SGMK fand ich in die FA-Kontaktgruppe. Es war (und ist auch heute noch) nicht nur einfach andere mit derselben Krankheit kennen zu lernen. Wir können miteinander Erfahrungen und Tipps austauschen und über Missgeschicke, die nur uns passieren, lachen. Aber auch das frühzeitige Abschiednehmen von unseren Fähigkeiten und von unseren KollegInnen gehört zu unserem Leben.



Hedy Wolfer, 4. April 2012